Saudi-Arabien: Mein Weg zum Atheismus

Gastbeitrag von Rosilea .M

Seit ich begonnen habe, die Welt um mich herum zu begreifen, habe ich mich immer unwohl gefühlt, von Traditionen, eintönigem Alltag und Regeln umgeben zu sein.

Rosilea .M

Ich liebte es, mich anders auszudrücken. Ich gab mich meinen Tagträumen und dem Schreiben von Geschichten hin, um meine Langeweile zu vertreiben (die meisten davon waren in meinem Kopf). Dies war meine geistige Flucht und ein Bewältigungs­mechanismus.

Es gab eine Zeit, in der ich mich fragte, warum ich vernachlässigt wurde? Warum wurde ich schlecht behandelt, aber nie so schlecht, wie wenn ich meine säkularen Überzeugungen zum Ausdruck brachte? Ich wurde sogar schlechter behandelt als im Alter von 15 Jahren, als bei mir klinisch Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, nachdem die ersten Symptome mit 14 Jahren aufgetreten waren.

Und ich erwähne dies, da es hier in Saudi-Arabien gibt ein riesiges Stigma und eine massive Ungerechtigkeit herrscht. So wird nicht über Menschen in der Familie gesprochen, die als „entwicklungsverzögert“, „verrückt“ oder „zurückgeblieben“ gelten. Sie werden regelrecht totgeschwiegen. Anstatt Unterstützung zu erfahren, werden sie beleidigt, heruntergemacht und beschimpft, da sie als Belastung und tägliches Ärgernis wahrgenommen werden. Sie werden als Strafe oder Prüfung Gottes wahrgenommen. Hinzu kommt die Tatsache, dass diese Menschen nicht verheiraten werden können, was sie zusätzlich unter Druck setzt.  So sind die Eltern frustriert und lassen ihren Unmut an den betroffenen Kindern aus, da deren bloße Existenz ihre „Familienehre“ beschädigt.

Schon damals habe ich begriffen, dass das System, in dem wir lebten, mangelhaft war. Aber wenn man jung ist und nichts anderes kennt, kann man den Kern des Problems nicht genau erfassen. Man erkennt zwar die Denkverbote, die Bigotterie und die Unterdrückung logischen Denkens sowie die Stammesmentalität, in der die individuellen Bedürfnisse zugunsten einer Anpassung an die Allgemeinheit auf ungesunde Weise unterdrückt werden. Aber über diese Dinge denkt man kaum nach, solange man sich als Opfer sieht – diese „Opfermentalität“ eint uns, indem wir die Welt nur als ein „wir gegen die“ betrachten. Uns wird eingetrichtert, dass wir nur zusammen stark seien und wir uns auf unsere glorreiche Vergangenheit besinnen sollten, als alle Fragen bereits beantwortet worden seien. Diese Vergangenheit gelte es, mit allen Mitteln wiederzuerlangen. Doch dies sind alles nur Versprechen, die darüber hinwegtäuschen sollen, in welch desolater Lage wir uns heute befinden.

Menschenrechte sind hier niemals ein Thema. Der Schwerpunkt liegt stattdessen auf dem Glauben selbst, wie man ihn richtig praktiziert, wie man sicherstellt, dass man dies von klein auf übt und die Kinder schlägt, falls sie dies – bei Mädchen im Alter von 10, bei Jungen von 15 Jahren – nicht regelmäßig tun. Außerdem ist man sehr damit beschäftigt sicherstellen, dass andere, wie sie den Glauben praktizieren, herabsetzt und beschimpft, wenn sie dies nicht perfekt und ordentlich tun, sollten sie sich nicht an die religiösen Regeln halten. Man hält sie dazu an, es genauso zu machen wie man selbst.

Frauen müssen regelmäßig beten, um eine perfekte Tochter oder Ehefrau zu sein. Sie müssen in Gegenwart von Männern immer verschleiert sein. Einzige Ausnahme ist bei ihrem Mann oder Vater. Und es ist die Aufgabe der Männer dafür zu sorgen, dass dies auch eingehalten wird.

Ständig brüllen sie es in die Welt hinaus, die Sheikhs und die Imame. In allen Moscheen in meiner Umgebung schärfen sie den Leuten ständig ein, dass Frauen zu Hause bleiben sollten, wie wunderbar dieses Leben doch für sie sei. Wir verderbt und voller Versuchungen das Leben außerhalb doch sei, wenn Frauen sich frei unter Männern bewegen würden. Wir haben das Narrative sehr stark verinnerlicht, dass es das Beste für die Frau sei zu Hause vor dieser Welt geschützt zu sein. So ist es von größter Bedeutung für die „Ehre“ des Mannes, dass die Frau möglichst wenig sichtbar, wahrnehmbar und somit „rein“ ist. Glücklicherweise werden in jüngster Zeit werden diese Regeln von Feministinnen zunehmend missachtet. Hinzu kommt bei vielen Familien aus wirtschaftlichen Gründen die Notwendigkeit, auch die Frauen arbeiten zu lassen. Darüber hinaus öffnen die Sozialen Medien ein Fenster zur Welt, das vorher verschlossen war. Es gibt aber auch eine religiös-feministische Bewegung, die bei den Reformern auf große Vorbehalte und einigen Widerstand stößt.

Alle diese Entwicklungen haben leider keinerlei Auswirkungen auf Frauen wie mich. Wir befinden uns immer noch auf der dunklen Seite der Gesellschaft. Wir sind dem Machtmissbrauch durch die Herrschenden ausgeliefert. So sind wir beispielsweise unseren Eltern schutzlos ausgeliefert, die es als ihr gottgegebenes Recht ansehen absolute Kontrolle über ihre Kinder auszuüben oder unserem Ehemann, der über das Schicksal seiner Frau bestimmen kann. Deshalb erträgt man es kaum, wenn am hört, man solle doch „geduldig sein“ oder sie solle sie „lieben und ehren“. Weiterhin ist die Aussage, dass sie es ja sind „die dich großgezogen hätten und denen Du ja dein Leben verdankst“ und den gegebenen Umständen nur sehr schwer zu ertragen. Diese Sprüche hatte ich als Kind zur Genüge gehört, als ich mich darüber beschwerte, wie ich behandelt wurde. Ich bin jetzt 27 und ich werde immer noch misshandelt. Die Organisationen vor Ort, die sich Missbrauchsopfer annehmen sollen, sind ein Witz. Ihr einziger Ratschlag ist, dass man mit dem Aggressor sprechen soll. Am besten sei es, dann Vorfall zu vergessen, denn wenn man ihn melden würde, wäre man die Schande der Familie. Man würde alles verlieren, Familie, Freunde, geliebte Menschen und wäre sozial isoliert. Der einzige Ausweg wäre, alles zu protokollieren und dadurch Aufmerksamkeit für sein Schicksal bekäme.

Für mich war es seltsam, dass ich nur anhand meiner Heiratsfähigkeit bewertet wurde. Dabei war die Qualität dieser Heirat nebensächlich. Ob diese Ehe glücklich war, spielte überhaupt keine Rolle. Da ich ja krank war konnte ich keinerlei Ansprüche stellen. Meine einzige Aufgabe in der Ehe sei es, das Haus absolut staubfrei zu halten und mindestens sieben Kinder zu gebären. Mit meinen Eltern über meinen gesundheitlichen Zustand zu sprechen machte keinen Sinn, da sie der Auffassung waren, dass ich geheilt sei, da sie ja gebetet hätten.

So war es vorherzusehen, dass mir niemand glaubte, als ihnen von Vergewaltigungsversuchen in meiner Ehe berichtete. Frauen werden hier nicht unterstützt, was erklärt, weshalb viele in Gewaltehen verharren. Das Verhalten meiner Eltern war hierfür beispielhaft.

Es kümmert auch niemanden, wenn Männer mit einer anderen Sexualität oder weiblichen Aussehen vergewaltigt werden. Oft werden diese Männer erpresst und müssen Sklavenarbeit verrichten. Diese Menschen entwickeln daraufhin oft schwere psychische Probleme. Interessiert überhaupt jemanden? Nein, das tut es nicht.

Die Gesellschaft interessiert sich generell nicht für Menschen mit psychischen Problemen. Gott will es so, um diejenigen zu prüfen, die gesund sind.

Es ist komisch, denn ich habe immer die Werte des säkularen Humanismus vertreten, bevor ich überhaupt von dem Wort erfahren habe. Als ich anfing mit meiner Familie über körperliche Misshandlung und verbale Demütigungen zu sprechen, wurden meine Argumente als „Europäische Denkweise“ herabgewürdigt. Dies ist eine bekannte Reaktion religiöser Menschen auf Kritik an ihrem Verhalten.

Trotz all dieser Widrigkeiten hielt ich an meinen Überzeugungen fest und zwang mich in dieser Gesellschaft zu überleben, da ich mich nicht unterkriegen lassen will, obwohl es keine endgültige Antwort auf meine Fragen gibt. Doch vor einigen Monaten kam es aus mir heraus, ich begrüßte das Leben und fand die Antwort. Ich bin Atheistin, ich bin Humanistin!

Rosilea .M