Immer mehr Menschen in der islamischen Welt verlassen ihre Religion. Viele tun dies im Stillen, doch manche schreiben darüber. Ein besonders faszinierendes Beispiel hierfür ist der Blog einer jungen Frau aus dem Jemen. Es gehört viel Mut dazu sich mitten aus diesem konservativen Land, in welchem zudem seit fast vier Jahren Krieg herrscht, kritisch zum Islam zu äußern.
Uns ist es gelungen zu dieser außergewöhnlich mutigen Frau Kontakt aufzunehmen. Uns interessierte, wer hinter dieser Facebookseite steckt. Wir waren bei unserer Befragung jedoch darauf bedacht, dass ihre Identität gewahrt bleibt und haben keine Fragen gestellt, die ihre Identität verraten könnten.
Du lebst als junge Frau im Jemen. Wie ist die Situation für Frauen dort und wie hat sie sich in den letzten Jahren verändert?
Die Situation für die Frauen hier ist absolut schrecklich und hat sich in den letzten Jahren noch verschlimmert. Jemen ist speziell für Frauen sehr unsicher geworden. Es gibt heute mehr denn je Entführungen und Vergewaltigungen, gefolgt von „Ehren“-Morden“. Viele Frauen entscheiden sich dafür, dies nicht zu thematisieren, aus Angst vor Misshandlung, Scham und Verurteilung durch die Menschen um sie herum, denn das bringt Schande über ihre Familien. Frauen werden zu Ehen gezwungen, die sie nicht wollen, in denen sie unglücklich sind. Die Menschen hier glauben, dass die Ehe das wichtigste Ziel ist, das Frauen erreichen können, und dass sie wichtiger ist als Bildung. Einige Familien erlauben ihren Töchtern nicht einmal, zur Schule zu gehen. In einigen Teilen des Landes finden immer noch Kinderehen statt. Ich habe persönlich junge Mädchen gekannt, bei denen ich sah, dass sie mit alten Männern verheiratet wurden. Einige von ihnen waren meine Klassenkameradinnen in der Grundschule. Ich habe online gelesen, dass die Kinderehe in den letzten Jahren wegen des Krieges sogar auf dem Vormarsch war, da Familien ihre Töchter für Geld in die Ehe verkaufen, weil sie arm sind.
Was würdest du dir für dein Land wünschen?
Erstens, dass der Krieg aufhört, denn er verursacht so viel Leid. Zweitens möchte ich den Tag erleben, an dem mein Volk zu akzeptieren beginnt, dass Veränderung nicht schlecht ist und dass das Brechen mit Gewohnheiten und Traditionen sogar Vorteile haben kann. Jeder weiß, dass im Jemen im Moment Krieg herrscht, doch was weiß man noch über dieses Land?
Der Jemen hat eine sehr lange Geschichte und eine einzigartige Kultur. Aber anstatt die gleichen historischen Ereignisse ständig zu wiederholen, müssen wir endlich von üblen Gewohnheiten und Traditionen lösen und uns an den guten orientieren. Es ist bereits 2019, doch die Menschen leben bis heute in der Vergangenheit. Das macht mich, um ehrlich zu sein, ziemlich traurig.
Du bist nicht mehr religiös. Warum glaubst du nicht mehr an den Islam? Und seit wann?
Ich war nie eine strenggläubige Muslimin, doch immerhin glaubte ich, dass der Islam die Perfektion sei und ohne Makel, dass es keine Fehler und Löcher darin gäbe, die man kritisch hinterfragen könnte. Doch seit meiner Kindheit fühlte ich mich immer schuldig, weil ich nicht dem gefolgt bin, was meine Religion mich gelehrt hat. Ich hatte Angst, für immer in der Hölle zu brennen. Ich erinnere mich, als ich im Badezimmer meiner Schule zum ersten Mal meinen Hijab abgenommen habe, mich im Spiegel ansah und anfing, mich selbst kritisch zu betrachten. Aber ich konnte nicht verstehen, warum ich mich immer noch äußerst schuldig fühlte und gleichzeitig Angst davor hatte, dass jemand plötzlich an die Tür klopft. Also fing ich an, mehr und mehr zu lesen, verschiedene Leute online zu treffen und mich mit ihnen über meine gemischten Gefühle bezüglich des Islams auszutauschen, bis es eines Tages Klick machte und ich einige Dinge klar erkannte. Zum Beispiel tauchten in meinem Kopf einige Fragen auf wie: Warum sollten andere Menschen den Islam hassen, wenn es doch eine friedliche Religion ist. Warum würde Allah mich dafür bestrafen, dass ich seine Regeln nicht befolgt habe? Warum kümmert sich dieser Allah immer um Frauenhaare und -körper und warum töten Menschen im Namen dieses Gottes? Ist er überhaupt da draußen und wenn er wahr ist, warum will er dann diejenigen verbrennen, die nicht an ihn glauben? Ich fing an, viele Fehler in dem zu finden, was der „Eine und einzige Gott“ sein sollte, also hörte ich auf, zu ihm zu beten. Ich würde mich ja auch nicht mit so unnachgiebigen, wütenden und narzisstischen Menschen abgeben – also, warum sollte ich einen Gott mit diesen Eigenschaften anbeten?
»Ich sehe kein Schwarz-Weiß mehr, mein Inneres ist jetzt voller schöner Farben.«
Wie hat sich das Leben für dich im Jemen verändert, seitdem du den Islam verlassen hast?
Mental hat sich für mich sehr viel verändert. Ich fühlte mich, als würde ich genau hier und jetzt wiedergeboren. Es ist, als ob man eine sehr alte und staubigen Maske abnimmt, die ich jahrelang tragen musste. Obwohl ich immer noch gezwungen bin, die Burka zu tragen, ist die Frau dahinter nicht mehr die gleiche Frau wie vorher. Ich sehe kein Schwarz-Weiß mehr, mein Inneres ist jetzt voller schöner Farben.
Es ist sehr gefährlich, den Islam zu verlassen. Die Artikel 12 und 259 des jemenitischen Strafgesetzbuches sehen die Todesstrafe für Apostasie vor. Wie gehst du damit um? Kannst du die Tatsache verbergen, dass du kein Muslim mehr bist?
Wie viele andere Ex-Muslime habe ich keine andere Wahl, als meine Identität zu verbergen und vorsichtig zu sein, wenn es darum geht, Details preiszugeben, die mich mein Leben kosten könnten. Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich mich extrem einsam und deprimiert fühlte, sodass mir alles egal war. So postete ich meine Bilder auf Social Media Plattformen und hörte auf, zu Hause zu beten. Das war nicht besonders klug von mir, um ehrlich zu sein. Aber wie gesagt, es war mir egal, ob ich am nächsten Tag noch lebe oder tot bin. Aber da die Leute, die ich online traf, zu mir standen und mir zeigten, dass ich nicht allein bin, habe ich beschlossen, vorsichtiger zu sein und über jeden Zug nachzudenken, den ich mache, weil jede unbedachte Tat meine letzte sein könnte.
Besteht nicht die große Gefahr, dass deine Familie herausfindet, dass du nicht mehr gläubig bist?
Meine Familie weiß, dass ich mich von anderen typischen jemenitischen Mädchen unterscheide, die sich artig verhalten und sehr religiös sind. Aber keiner von ihnen weiß, dass ich nicht mehr täglich bete, dass ich den Islam verlassen habe und dass ein paar Internetfreunde Fotos von mir gesehen haben. Die Männer in meiner Familie kontrollieren uns Frauen sehr stark und wenn sie das jemals herausfinden, dann bin ich in großer Gefahr. Für meinen Glaubensabfall würde ich sehr wahrscheinlich bestraft werden, möglicherweise mit dem „Ehren“-Mord. Meine Schwester ist auch nicht mehr religiös. Glücklicherweise stehen wir uns sehr nahe, so dass wir uns immer wieder gegenseitig den Rücken stärken.
Du betreibst eine Facebook-Seite, die der Religion kritisch gegenübersteht und sich für Freiheit, insbesondere für Frauen, einsetzt . Warum gehst du ein solches Risiko ein entdeckt zu werden?
Die meisten Menschen in meiner Gesellschaft sind gezwungen, an etwas zu glauben, ohne eine Alternative gehabt zu haben. Ich möchte, dass meine Mitmenschen ihre Herzen für neue Gedanken und Ideen aus einem anderen Jemen öffnen und über den Tellerrand hinausblicken. Meine Seite ist wie eine offene Tür für jeden, der Antworten außerhalb des religiösen Kontextes sucht und wissen will, wie es ist, ein Freidenker zu sein.
Was würde passieren, wenn deine Familie herausfinden würde, dass du diese Facebook-Seite betreibst?
Absolut schreckliche und ungerechte Dinge würden mich erwarten. Dazu gehört, dass ich körperlich geschlagen, emotional und geistig missbraucht werde und ohne meine Zustimmung zwangsverheiratet werde. In meiner Gesellschaft sagt man, dass man eine Frau nicht freigelassen werden darf, denn sonst tut sie am Ende sündhafte Dinge und deshalb braucht sie einen Mann in ihrem Leben, der sie kontrolliert. Schon das Nachdenken darüber, was mich erwartet, ist erschreckend.
Was wünschst du dir persönlich für dein Leben?
Ich möchte wissen und fühlen, wie es ist, in einer gesunden und sicheren Umgebung zu sein, und ich möchte anderen helfen, die Hilfe und Unterstützung benötigen. Ich möchte in der Lage sein, für mich selbst zu sprechen, ohne die Folgen befürchten zu müssen. Ich möchte auch, dass andere Menschen wissen, dass der Jemen mehr ist als nur der Krieg, von dem man in den Nachrichten hört, und dass sie vom Leben der normalen Frauen hier erfahren. Es gibt Menschen wie mich, die eine Veränderung bewirken und etwas für unsere Gesellschaft tun wollen. Ich bin keineswegs religiös, aber ich möchte eine Botschaft senden, dass der Jemen für alle sein sollte, ob religiös oder nicht, Muslime, Juden oder Christen, und dass wir, wenn wir alle zusammenleben und unsere Unterschiede akzeptieren können, wieder auferstehen können.
Vielen Dank für deine Zeit. Ich wünsche dir alles Gute und dass all deine Wünsche eines Tages in Erfüllung gehen werden.