Maryam – Überleben in einer frauenfeindlichen Gesellschaft

Interview von Karrar al Asfoor.

„Der Hijab steht für Empowerment und Befreiung – als Symbol des Feminismus.“ Mit diesem Slogan wird der Schleier (Hijab) in der westlichen Welt als Ausdruck von Frauenrechten und in Kampagnen gefeiert, beispielsweise beim sogenannten „World Hijab Day“.

Maryam

Diese Aussage, die ich zum ersten Mal gehört habe, als ich nach Europa kam, unterscheidet sich radikal von der Propaganda, die dort gefördert wird, wo ich aufgewachsen bin – im Irak. Die Macht wird dort nur den Männern zugeschrieben, während Frauen gehorsam sein müssen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird als ein Zeichen der gesellschaftlichen Zersetzung angesehen. Somit stehen feministische Bewegungen im Verdacht, die Gesellschaft zerstören zu wollen.

Dieser Gegensatz in der Wahrnehmung ließ mich neugierig werden. Weshalb repräsentiert das religiöse Symbol des Hijab in zwei unterschiedlichen Gesellschaften so gegensätzliche Werte?

Aus diesem Grunde entschloss ich mich, ein Interview mit der im Irak lebenden feministischen Aktivistin Maryam zu führen, um mehr über die Frauenrechtssituation in einem Land zu erfahren, in dem das Tragen des Schleiers stark verbreitet ist.


Hallo Maryam.

▷ Hallo Karrar.

Möchtest du dich unseren Lesern vorstellen?

▷ Mein Name ist Maryam. Ich bin eine irakische feministische Aktivistin, die in eine religiöse Familie mit schiitischem Hintergrund hineingeboren wurde und an mehreren Menschenrechtskampagnen teilgenommen hat. Darunter waren unter anderem die Kampagne zur Forderung nach Gesetzen zum Schutz vor häuslicher Gewalt, die Kampagne zur Rettung der entführten jesidischen Frauen und die Kampagne zur Untersuchung der patriarchalischen Logik.

Deine Familie ist also religiös. Bist du selbst auch religiös?

▷ Nein, ich bin Atheistin. Aber ich drücke meine atheistischen Gedanken nur im Geheimen aus, über soziale Netzwerke und mit einer gefälschten Identität. Ich fürchte um meine persönliche Sicherheit, wegen möglicher Bedrohungen und auch Verstößen gegen die Blasphemiegesetze.

Was würde mit Dir passieren, wenn deine Identität und deine atheistischen Gedanken aufgedeckt würden?

▷ Man könnte mir alle lebensnotwendigen Mittel entziehen, ich könnte inhaftiert werden oder man tötet mich einfach, sollte man mich entdecken. Es gibt keinen Ort, an dem man als Frau kritische Ideen in absoluter Sicherheit austauschen kann.

Wie lange bist du schon Atheistin? Was war der Grund, weswegen du die Religion verlassen hast?

▷ Ich war eine liberale Muslimin und ich dachte, dass die Religion an sich tolerant sei und dass nur die Gesellschaft die Religion falsch lebte. Auch damals habe ich schon Menschen unterstützt, die zu Minderheiten gehören, wie beispielsweise LGBT, weil ich dies für eine private Angelegenheit halte, die andere nichts angeht.

Mit diesen Ideen unterschied ich mich von der Mehrheit der Gesellschaft, die meiner Meinung nach extremistische Überzeugungen vertritt. Die irakische Gesellschaft ist in zwei Gruppen gespalten, eine extremistische Mehrheit und eine progressive Minderheit. Ich fühlte mich dieser progressiven Minderheit verbunden.

Ich führte die Rituale des Islam durch und las den Koran achtmal. Ich verrichtete auch das Gebet und fastete. Aber ich hatte auch Fragen, die mich seit meiner Kindheit bewegt haben und auf die ich keine logischen Antworten finden konnte. Beispielsweise, mit wem die Söhne und Töchter von Adam und Eva verheiratet wurden, sowie die Geschichte von Yunus‘ Aufenthalt im Bauch des Wals.

Im Jahr 2017 begann ich meine Religion kritisch zu betrachten und nach Antworten zu suchen. Es waren extremistische Gruppen wie der IS, Al-Qaida und schiitische Milizen, die mich dazu brachten, die Bedeutungen von Koranversen neutral zu betrachten und neu zu bewerten. Jene Verse, die zu Mord, Djihad und zur Herabsetzung von Frauen auffordern. All diese Verse widersprachen meinen ethischen Vorstellungen. Deshalb habe ich das Vertrauen in den Islam verloren.

Du hast erwähnt, dass im Irak zwei Arten von Gesellschaften existieren, eine extremistische und eine progressive. Lebst du in einem extremistischen oder progressiven Umfeld? Sind die Menschen in deinem täglichen Leben eher modern oder traditionell?

▷ Mein gegenwärtiges Umfeld ist natürlich extremistisch und falls sie mich misshandeln, haben sie den Rückhalt der Gesellschaft, der Religion und der Rechtsprechung.

Kannst du Erfahrungen aus deinem extremistischen Umfeld mit uns teilen?

▷ Ich war psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt, musste den Hijab tragen und bin ständig mit Zwangsheirat und dem Entzug eines freien und selbstbestimmten Lebens bedroht worden. Da die Frau die Ehre der Familie vertritt und weil es den Gepflogenheiten und den Traditionen entspricht, dass eine Frau das Haus ihrer Familie nur verlassen darf, wenn sie verheiratet ist und in das Haus ihres Mannes zieht. Ich darf mich auch nicht kleiden wie ich möchte. Auch hier muss ich mich nach den Vorgaben meines Vormunds richten.

Maryam

Meine Schwester wurde im Alter von 15 Jahren zu einer „Ehe“ gezwungen, nachdem sie versucht hatte zu fliehen und dies misslang. Nach ihrer Zwangsverheiratung wurde sie auch bald schwanger.

Du sagst, du wurdest gezwungen den Schleier zu tragen; in einigen westlichen Ländern wird der Hijab als Symbol für die Selbstermächtigung der Frau und als Symbol für Befreiung und Feminismus beworben.
Was sagst du zu dieser Aussage und gibt es Erfahrungen mit dem Schleier, die du mit uns teilen kannst?

▷ Die Ideologisierung des Hijab beginnt in der Kindheit, wenn Kinder unter Druck gesetzt werden, dem Beispiel von Zainab bint Ali und Fatima Al Zahraa zu folgen.

Dieses Narrativ setzt sich auch während der Schulzeit fort und die Gesellschaft bekräftigt dies fortwährend. Eltern, Nachbarn, Lehrer, Medienfachleute und die Slogans an den Wänden verfolgen alle nur ein Ziel, nämlich die Verbreitung und Verfestigung der Ideologie des Schleiers.

Wenn das Mädchen dann die sogenannte gesetzliche Pubertätszeit erreicht (wenn seine Periode beginnt), werden gewalttätigere und strengere Methoden angewendet, um es zu zwingen, den Hijab zu tragen. Dies wird gesellschaftlich mit dem Erreichen der geschlechtlichen Reife begründet. Das Aussehen ihrer Haare könnte Männer in Versuchung führen, so dass sie vergewaltigt und ihre Familie beschämt würde. Solche Aussagen habe ich selbst so hören müssen.

Deshalb musste ich den Schleier schon in jungen Jahren tragen, obwohl ich es nicht wollte. Ich mochte es hingegen, wenn meine Haare sichtbar waren. Deshalb nutzte ich jede Gelegenheit, um ihn auszuziehen, wenn meine Familie nicht dabei war.

Als ich versuchte, mit meiner Familie darüber zu sprechen, dass ich den Schleier nicht tragen möchte, wurde ich geschlagen und meine psychische Verfassung verschlechterte sich weiter.

Ich wurde von der Schulwache, den Schülern und Lehrern gemobbt, als ich versuchte, die Schule ohne Hijab zu betreten.

Trotzdem denke ich, dass das, was mir passiert ist vergleichsweise harmlos ist im Vergleich zu dem, dem Mädchen im Süden ausgesetzt sind, wie beispielsweise in den Städten Kerbela und Nadschaf.

Vielleicht ist der Schleier ja für einige westliche „Feministinnen“ eine Quelle der Stärke, aber hier ist er der Grund für die Ermordung von Frauen, für die Auslöschung ihrer Individualität und die Vernichtung der Diversität.

Wo ist die Vielfalt und Einzigartigkeit einer Gesellschaft, die alle schwarz gefärbt hat?

Den Schleier als ein Zeichen der Freiheit zu bewerben (dieser Begriff spricht natürlich Menschen an, die ihren Sommer am Strand verbringen können) ist die größte Heuchelei.

Hier sind Millionen Frauen gezwungen ihn zu tragen – und dies bei Temperaturen von bis zu 56 Grad Celsius.

Und wenn du auch nur laut darüber nachdenkst, ihn auszuziehen, bist du allen Arten von Diffamierungen und Beleidigungen ausgesetzt.

Hier mischen sich alle Männer ein und wollen Frauen den Schleier aufzwingen. Dies ist nur ein Teil dessen, was Frauen in dieser Gesellschaft auferlegt wird, aber es ist ein wichtiger Teil. Es erlaubt es den Männern absolute Macht über den Körper einer Frau zu haben. So hüllt er sie in schwarze Kleidung, damit diese ihre Identität verbirgt – selbst wenn diese Frau ihm fremd ist. Man kann sich vorstellen, welche Autorität er hat, wenn diese Frau seiner Familie angehört.

Der Hijab ist kein Zeichen für Freiheit; er ist ein Werkzeug, um Frauen zu kontrollieren und sie in eine bestimmte Rolle zu pressen, aber er wird niemals eine Quelle der eigenen Macht sein.

Maryam, du hast erwähnt, dass deine Schwester im Alter von 15 Jahren verheiratet wurde. Kannst du den Vorfall beleuchten und ob auch du und deine anderen Schwestern Versuchen von Zwangsheirat ausgesetzt waren?

▷ Sie ist meine vierte Schwester, sie wurde psychisch und physisch misshandelt. Sie beschloss 2018 vor meiner Familie zu fliehen, aber sie scheiterte. Sie war Gewalt und Folter ausgesetzt. Sie wurde mehrere Monate zu Hause eingesperrt und dort die ganze Zeit weiter misshandelt. Schließlich wurde sie gegen ihren Willen verheiratet.

Als meine Schwestern und ich versuchten, sie zu verteidigen, waren wir ebenfalls Gewalt ausgesetzt.
Und ständig hören wir diese Sätze: „Heirate endlich oder willst du dein ganzes Leben bei uns bleiben? Mädchen sind dazu bestimmt, zu heiraten, ihr Leben mit ihrem Ehemann zu leben, im Haus des Ehemanns zu arbeiten.“

Die Gewalt geht immer weiter. Die Flucht aus einem „Gefängnis“, dem Zuhause, in ein anderes, dem des Ehemanns, ist riskant. Ob das nächste „Gefängnis“ nämlich genauso ist, wie das der Familie oder nicht, kann man nicht wissen.

Durch wen warst du Gewalt ausgesetzt?

▷ Als ich ein 8-jähriges Mädchen war, wurde mir von meinem Vater Gewalt angetan. Er wollte mich bestrafen, weil ich belästigt wurde (nach unseren Sitten und Gebräuchen liegt die Schuld der Belästigung immer bei der Frau). Er verbrannte meine Hände mit kochendem Wasser, was zu ihrer Entstellung führte.
Lange Zeit hatte ich Schwierigkeiten, meine Hände zu bewegen, aber ich ging zur Bewegungstherapie, zur Physiotherapie und ins Krankenhaus. Danach verbesserte sich ihr Zustand etwas, aber die Hälfte der Symptome ist noch heute vorhanden.

Bei einem anderen Vorfall während der Schule haben mir meine Mutter und mein Vater meine Füße und meinen Bauch verbrannt, weil ich eine Prüfung nicht bestanden habe. Die Verbrennungen an meinem Bauch und meinen Füßen sind im Vergleich zu meinen Händen geringer, aber die Narben sind noch heute sichtbar.
Wer meinen Vater und meine Mutter ermutigte, mich zu foltern, war meine Tante. Sie erzählte ihnen, wie sie ihre Kinder foltert um sie zu disziplinieren. Sie verbrüht sie ebenfalls.

Wir sind der Gewalt mehrerer Menschen ausgesetzt, meines Vaters, meiner Mutter, meiner Tanten und der Cousins.
Verbale Gewalt und Beleidigungen sind Alltag, während körperliche Gewalt sporadisch auftritt. Nachdem jedoch meine Schwester versucht hatte wegzulaufen, nahm die Gewalt zu.
Die gesamte Familie beteiligte sich an den Züchtigungen.

Einige Male verteidigte mich meine Mutter. Andere Male schlug sie mich, als ich beispielsweise einen Job suchte.

Aber die meiste Gewalt bekam ich von meinem Vater zu spüren. Im letzten September bin ich von meinem Vater so sehr geschlagen worden, dass ich nicht mehr in der Lage war zu laufen.
Meine Mutter sagte mir daraufhin, dass ich es verdient hätte. Mein Vater wäre der einzige, der wisse, wie man mich zu erziehen habe.

Gibt es irgendwelche Organisationen, an die du dich wenden kannst, um Schutz zu suchen?

▷ Im Irak würde ich solchen Organisationen niemals vertrauen. Ich bleibe lieber bei meiner Familie als bei einer Organisation, deren Ziel es ist, mich zu meiner Familie zurückzubringen. Die Konsequenz wäre, dass zur Heirat gezwungen oder getötet würde.

Ich hoffe lieber auf einen Zufall. Ich möchte nicht sterben.

Einmal habe ich versucht, einen entfernten Freund meiner Familie (einen vorgeschlagenen Ehemann) um Hilfe zu bitten. Er sagte mir, dass meine Familie mich schlage, weil sie mich liebe.
Außerdem halten alle Verwandten zusammen.

Es gibt also Organisationen, die Hilfe leisten und Schutz bieten sollen, aber sie tun dies nur zum Schein? Sie übergeben die Schutzsuchenden schließlich wieder ihren Familien, wo sie deren Gnade ausgeliefert sind? Wo sie zwangsverheiratet oder ermordet werden? Habe ich das richtig verstanden?

▷ Genau.

Maryam, Du bist allen Arten von Unterdrückung, Verfolgung, Freiheitsentzug und durch die Gesetze zur Vormundschaft der Gefahr einer Zwangsheirat ausgesetzt, und es gibt keine Organisation, an die du dich wenden kannst, um Hilfe zu erhalten. Mich würde interessieren, hast du über eine Ausreise aus dem Irak in ein anderes Land nachgedacht, dass deine Menschenrechte und Freiheiten respektiert?

▷ Natürlich kam mir die Idee zu fliehen, besonders nachdem meine Schwester zu entkommen versucht hatte und ich gesehen habe, was danach mit ihr passiert ist.

Aber dafür brauche ich Geld und ich habe kein Geld.

Ich muss also zuerst arbeiten, um Geld zu sparen. Aber meine Familie hindert mich daran zu arbeiten. Ich hatte ja schon erwähnt, dass ich deswegen von meiner Mutter geschlagen wurde, als sie herausfand, dass ich nach einer Arbeitsmöglichkeit gesucht hatte.

Theoretisch könnte der Plan erfolgreich sein, wenn ich die Möglichkeit hätte, aus dem Haus zu gehen, zu arbeiten und Geld zu sparen, aber das ist praktisch unmöglich. Ich kann somit nur wesentlich weniger Geld sparen als ich bräuchte. So dauert es viel zu lange, bis ich den erforderliche Betrag angespart habe.

Leider sitze ich hier fest.

Was hindert dich daran, direkt zu einer Botschaft eines der Länder zu gehen, die die Menschenrechte respektieren und ein Visum, Asyl oder ähnliches beantragen?

▷ Dies ist nicht möglich, es gibt keine Möglichkeit, auf diese Weise Asyl zu beantragen, Botschaften nehmen keine Asylanträge an. Außerdem sind die Bedingungen für die Ausstellung eines normalen Visums für mich fast unmöglich.
Wenn es so einfach wäre, hätte es vielen missbrauchten Frauen geholfen.

Wie auch immer, dies sind ja nicht die einzigen Hürden für mich. Vielleicht findet meine Familie heraus, dass ich versuche zu verreisen und bestraft mich dafür. Oder ich werde vom Passbeamten am Flughafen zurückgebracht, nachdem er meine Familie informiert hat.

Kennst du die Visabestimmungen?

▷ Man braucht Kontoauszüge, die ein regelmäßiges Einkommen belegen.

Außerdem benötigt man ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller mit seinem Land verbunden ist (z. B. eine Eigentumsbescheinigung für eine gewerbliche Immobilie).

Diese Bedingungen sind nur für Bürger aus Golfstaaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten leicht zu erfüllen.
Der VAE-Pass gewährt seinem Inhaber eine visumfreie Einreise in viele Länder, während der irakische Pass seinem Inhaber nirgendwo eine visumfreie Einreise gewährt – mit Ausnahme einer sehr begrenzten Anzahl von Ländern, die dem Irak ähnlich sind, wie beispielsweise Afghanistan.

Der Irak ist auch eines der Länder, in denen die Bürger nur einen geringen Zugang zu Bankdienstleistungen haben. Daher sind Bankkonten hier nicht üblich, wie in den Vereinigten Arabischen Emiraten, sondern sie sind auf eine kleine Gruppe von Geschäftsinhabern und Menschen mit hohem Einkommen beschränkt.
Andererseits reicht es aus, für ein Unternehmen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu arbeiten, um die Verbindung des Antragstellers mit den Emiraten nachzuweisen. Im Irak erfordert die Angelegenheit jedoch mehr.

Bei meiner Antwort bin ich davon ausgegangen, dass der Antragsteller ein Mann ist. Stell dir vor, wie es wäre, wenn der Antragsteller ein Bürger zweiter Klasse ist, dem die Rechte entzogen sind, wie beispielsweise einer Frau.

In den letzten Jahren gab es einen Zustrom von Flüchtlingen aus Ländern des Nahen Ostens nach Europa und die meisten dieser Flüchtlinge waren muslimische Männer, während Frauen einen sehr geringen Prozentsatz ausmachten. So war beispielsweise der Anteil an Frauen bei irakischen Asylbewerbern im Jahr 2015 nur 10% bei den unter 17-Jährigen, nur 10% bei den 18- bis 34-Jährigen und lediglich 5% bei den Über-35-Jährigen. Ich hatte auch den Eindruck, dass die meisten mit ihren Familien kamen.
Unabhängig davon, ob sie alleine oder mit ihren Familien kamen, stimmen diese Zahlen immer noch nicht mit der Demografie des Irak überein.
Meiner Meinung nach sollte der Frauenanteil unter irakischen Asylbewerbern bei etwa 50% liegen. Wenn wir jedoch die sexuelle Diskriminierung von Frauen im Irak berücksichtigen, müsste der Frauenanteil bei irakischen Asylbewerbern noch viel höher liegen.
Woher kommt es also, dass es so wenige Frauen sind? Wo sind all die Frauen? Warum sind so wenige in der Statistik? Findest Du, dass diese Einwanderungspolitik fair ist?

▷ Das Ergebnis ist natürlich unfair. Der Grund dafür sind die Schwierigkeiten, mit denen eine Frau konfrontiert ist, wenn sie über eine Auswanderung nachdenkt, um Asyl zu suchen. Für einen Mann ist es einfach, es gibt niemanden, der sich seiner Auswanderung widersetzt, aber eine Frau muss darüber nachdenken, wie sie Geld sparen kann und wie sie fliehen kann, ohne dass jemand aus ihrer Familie davon erfährt. Wenn sie keinen Erfolg hat, wird sie bestraft, geschlagen, eingesperrt oder getötet – und genau das ist vielen Frauen 2014/2015 passiert.

Daher liegt der Hauptgrund dafür, dass Frauen in der Statistik für Asylbewerber nicht vorkommen darin, dass Frauen in den Häusern ihrer Familien eingesperrt sind, keine Rechte haben, Bürger zweiter Klasse sind, unter Vormundschaft stehen und nicht die Möglichkeit haben auszuwandern.

Darüber hinaus erfolgt die Migration zur Asylsuche auf illegalen Wegen, einschließlich des Überschreitens von Land- und Seegrenzen in gefährlichen Gebieten voller Banden von Menschenhändlern. Es gibt Frauen, die vergewaltigt wurden oder in die Prostitution geraten sind.

Maryam, am Anfang hast du dich auf ein Gesetz zu häuslicher Gewalt bezogen. Kannst du mehr darüber erzählen? Wie steht es um das derzeitige irakische Gesetz zu häuslicher Gewalt?

▷ Das derzeitige irakische Gesetz erlaubt Gewalt im Namen der Disziplin, da Artikel 41/1 des irakischen Strafgesetzbuchs besagt, dass „es kein Verbrechen gibt, wenn die Handlung unter Ausübung eines nach dem Gesetz festgelegten Rechts begangen wird … und es wird als Gebrauch des Rechts angesehen … des Mannes gegenüber seiner Frau und der Eltern, Lehrer und derjenigen, die gegenüber minderjährigen Kindern den gleichen Status haben. Im Rahmen dessen, was nach Scharia, Gesetz oder Sitte entschieden wird.“

Worüber ich am Anfang gesprochen habe, ist ein Gesetzesvorschlag, um häusliche Gewalt gegen Kinder, Frauen und auch Männer zu stoppen. Vor einem Jahr gab es eine Kampagne, die nach einem tragischen Vorfall in der Stadt Nadschaf gestartet wurde. Dort wurde eine Frau von ihrem Ehemann verbrannt. Sie starb an den Folgen. Dann erhoben sich die Stimmen der Feministinnen, um ein Ende der Gewalt gegen Frauen und Kinder zu fordern. Es wurde eine elektronische Kampagne angestoßen, um Druck zu machen, damit dieses Gesetz verabschiedet würde. Die Kampagne dauerte mehr als 100 Tage und erreichte das Parlament, aber die Abgeordneten stimmten gegen das Gesetz. Ihrer Begründung nach widerspreche das Gesetz den Bestimmungen der islamischen Scharia.

Die Leitmedien hatten auch ihren Teil dazu beigetragen, gegen dieses Gesetz vorzugehen. So sagte beispielsweise ein Journalist im Alsumaria-TV: „Was ist das Problem, wenn der Vater seine Tochter schlägt? … Mit welcher Rechtfertigung intervenieren die Institutionen zwischen dem Mädchen und ihrer Familie … Am Ende sind sie dann dessen Familie und sie haben das Recht, mit ihm zu tun, was sie wollen „.

Die meisten irakischen Männer lehnten dieses Gesetz ab und wurden in den Sozialen Medien aktiv um gegen das Gesetz vorzugehen. Dies geschah in Form einer Gegenkampagne, die neben anderen Dingen die privaten Daten, beispielsweise Fotos, von Aktivisten und Aktivistinnen stahlen, um diese dann auf Webseiten zu veröffentlichen. Viele Aktivisten und Aktivistinnen wurden erpresst und viele von ihnen verschwanden.

Diese Aktionen wurden von Männern aus dem Irak durchgeführt. Aber auch von irakischen Männern, die in Länder geflüchtet sind, welche als feministisch gelten, wie z.B. Deutschland, Norwegen oder Neuseeland. Sie fliehen dorthin und sprechen über ihre Leiden und nutzen die Gesetze, die ihnen die Menschenrechte garantieren – aber wenn es um Frauen geht werden sie zu Monstern.

Es gibt Organisationen, die mit der Europäischen Union zusammenarbeiten. Deren Ziel ist es, die Förderung und Umsetzung von Menschenrechten, individueller Freiheit und Demokratie auf der ganzen Welt zu gewährleisten. So beispielsweise der Europäische Auswärtige Dienst. Diese Einrichtungen sind offizielle Stellen und werden von europäischen Steuerzahlern finanziert. Gibt es eine Abteilung in diesen Organisationen, die dir helfen könnte? Gibt es jemanden, der nach dir gefragt hat? Oder haben sie zumindest diplomatisch interveniert, um das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt zu unterstützen? Gibt es eine europäische Initiative für irakische Frauen, von der du profitiert hast? Weißt du von der Existenz einer solchen Institution?

▷ Wenn es eine solche Organisation gäbe, hätte ich davon gehört.

Ich suche nach Organisationen, die mir helfen könnten. Aber ich habe keine Informationen gefunden. Nicht einmal, dass auch nur davon gesprochen wurde.

Niemand hat eingegriffen, damit das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt in Kraft tritt. Nur der kanadische Botschafter im Irak, der an einem Tweet auf Twitter teilgenommen hat.

Und was die von dir erwähnten Institutionen betrifft, so ist dies das erste Mal, dass ich davon gehört habe.

Du hast erwähnt, dass du eine feministische Aktivistin bist. Kannst du über deine politische Arbeit sprechen und was das Ziel deiner Arbeit ist?

▷ Ich bin in sozialen Medien aktiv und sensibilisiere die Öffentlichkeit für die Rechte von Frauen und LGBT, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Glaubensfreiheit, die Gleichstellung von Frauen und Männern. Außerdem plane ich elektronische Kampagnen und Hashtags und unterstütze ebenso die Kampagnen und Hashtags anderer.

  • Mein Ziel ist es, dass Frauen Männern in Zukunft gesellschaftlich gleichgestellt sind.
  • Mein Ziel ist es, nicht jeden Tag mit den Nachrichten über den Mord an einer Frau, dem Zusammenschlagen einer Frau, der Vergewaltigung eines Kindes und der Heirat eines minderjährigen Mädchens aufwachen zu müssen.
  • Mein Ziel ist es, die entführten jesidischen Frauen aus den Händen des IS zurückzuholen.
  • Mein Ziel ist es, die Misshandlung von Frauen wegen des Stammessystems zu stoppen.
  • Mein Ziel ist es, Al-fasliyah zu beenden. (Dies ist eine Stammespraxis, die die Beilegung von Streitigkeiten durch Frauenhandel umfasst. Wenn beispielsweise ein Mann aus einem Clan einen Mann aus einem anderen Clan tötet, treffen sich die beiden Clans, um den Konflikt zu lösen. Sie erzielen eine Einigung durch die Übergabe eines Geldbetrags durch den Clan des Mörders an den Clan des Ermordeten. Zusätzlich wird eine Gruppe von Frauen aus dem Clan des Mörders mit Männern aus dem Clan des Ermordeten zwangsverheiratet. Die Anzahl der Frauen wird während des Treffens von einer Gruppe von Stammesführern, Geistlichen und Nachkommen des Propheten Muhammad vereinbart.)
  • Mein Ziel ist es, Al-Nahowah zu stoppen. (Eine Stammespraxis, bei der es sich um ein Vetorecht handelt, das ein Mann besitzt, um die Töchter seines Onkels zu heiraten. Er kann es jederzeit anwenden. Wenn dieses Recht angewendet wird, kann niemand anderes das Mädchen heiraten.)
  • Mein Ziel ist es, Kinderehen zu stoppen.
  • Mein Ziel ist es, die mit dem Körper verbundene Schande zu beenden.
  • Mein Ziel ist es, Frauen medizinisch zu versorgen und Zugang zum Gesundheitssystem zu garantieren
  • Mein Ziel ist es, dass Frauen Zugang zu Bildung und sexueller Aufklärung haben und ein Bewusstsein für Brustkrebs entwickeln können. (Insbesondere in ländlichen Gebieten mit einer hohen Analphabetenrate.)
  • Mein Ziel ist es, die weibliche Genitalverstümmelung zu stoppen.
  • Mein Ziel ist es, Frauen in ländlichen Gebieten Krankenhäuser zur Verfügung zu stellen, da Frauen häufiger während der Geburt sterben und die Krebsrate in diesen Gebieten hoch ist.
  • Mein Ziel ist die Chancengleichheit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
  • Mein Ziel ist es, Statistiken über die Anzahl der Frauen, die verfolgt, misshandelt, vergewaltigt und Opfer von „Ehren“-Verbrechen werden zu veröffentlichen.
  • Mein Ziel ist es, Geschlechterstereotype, Vormundschaft und alle Arten von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu beenden.

Maryam, du lebst momentan tagtäglich unter diesen schrecklichen Umständen. Kannst du mir sagen, was Freiheit für dich bedeutet?

▷ Freiheit bedeutet mir sehr viel, ich möchte es wirklich erleben.

Ich möchte dieses Gefühl erleben, wenn die Sonnenstrahlen und die Luft meine Haare berühren, ohne an die Folgen denken zu müssen. Ich möchte dieses Gefühl erleben, schöne Kleidung zu tragen, ohne dabei Angst zu haben. Ich möchte erfahren, wie es sich anfühlt, wenn ich eine Entscheidung treffe und ich allein die Verantwortung übernehme. Ich möchte das Gefühl erleben, wenn mein Leben allein mir gehört – ohne Vormundschaft, Gewalt, Zwang, Einengung oder Schmerz.

Ich kenne viele Aspekte der Freiheit nur in der Theorie. Ich möchte dieses Gefühl wirklich auf praktische Weise erfahren. Alles, was ich über die Freiheit von Menschen gelernt habe, die sie erfahren haben, ist die feste Überzeugung, dass es eine schöne Sache sein muss, wenn ich die Gelegenheit bekäme, sie zu erleben.

Gibt es noch etwas, was du uns mitteilen möchtest, Maryam?

▷ Ich habe Informationen, die ich gerne teilen möchte. Es gibt Friedhöfe für Frauen, die „Der Friedhof der schuldigen Frauen“ genannt werden. Einer befindet sich in der Stadt Nasiriyah und der andere in der Stadt Sulaymaniyah. Sie begraben dort Frauen in namenlosen Gräbern. Diese Frauen sind Opfer von „Ehren“-Morden.

Einige wurden von ihren Brüdern getötet, andere von ihren Vätern, Ehemännern oder Cousins.

Einige wurden getötet, weil beim ersten Geschlechtsverkehr nach ihrer Heirat kein Blut aus ihrer Vagina austrat. Andere wurden wegen ihrer Kleidung, ihrer Worte, wegen unerlaubten Verlassens des Hauses oder des Verdachts einer romantischen Beziehung getötet.

Aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie wurden alle getötet, um die „Ehre“ der Familie zu bewahren.

Jeder, der an der Begehung dieser Verbrechen beteiligt ist – die Politiker, die Medien, die Geistlichen, die Clans, die Gesellschaft – sie alle bemühen sich, dieses Thema zu verschweigen.

Sogar Krankenhäuser vertuschen die „Ehren“-Morde. Sie behaupten, dass der Tod aus anderen Gründen eingetreten sei, beispielsweise aufgrund eines Kurzschlusses oder eines Sturzes von der Treppe.

Unsere Rechte werden missachtet, wir werden gefoltert, wir werden getötet und wir werden in unbekannten Gräbern verscharrt, um dies zu verschwiegen.

Vielen Dank, Maryam, für dieses Treffen, und ich wünsche dir sehr, dass du in Freiheit und Gleichheit leben kannst.

▷ Danke, Karrar.


Karrar al Asfoor ist ein irakischer Aktivist. Er setzt sich für Menschenrechte, insbesonderes Frauenrechte, ein. Er ist Atheist und lebt in Deutschland.