Und so kam der Stein ins Rollen

Adel, warum und wie bist Du nach Deutschland gekommen?

Adel ist ein Geflüchteter aus dem Irak. Er erzählt vom Beginn der Säkularen Flüchtlingshilfe Stuttgart und von seinem neuen Leben in Deutschland.

Adel

 Schon als Jugendlicher im Irak hatte ich meine Zweifel an der Religion oder sagen wir, ich hatte Fragen, aber man darf in der muslimischen Welt die Religion nicht hinterfragen und schon gar nicht kritisieren. Ich fand es seltsam, dass wir einen Gott anbeten sollten, der uns immer mit der Hölle drohte. Alles drehte sich um Allah. Er beherrschte auch unser Privatleben. Mit der Zeit, als ich dann im Medizinbereich studierte, kollidierte der Glaube mit der Evolutionstheorie.  Ich hatte die Möglichkeit, ins Internet zu gehen und las dann über die Evolution und über Menschenrechte. Ich musste meine Gedanken verheimlichen, denn es gab zwar ein paar Leute, mit denen man sich austauschte, aber immer unter Decknamen. Die Sittenpolizei passte auf, und mir war bewusst, dass ich mit dem Feuer spielte.

 Die soziale Kontrolle ist in allen muslimischen Ländern schon sehr stark. Immer wieder spielte ich mit dem Gedanken, in ein Land zu fliehen, das die Menschenrechte respektiert, denn es wurde immer schwerer, meine säkularen Gedanken zu unterdrücken. Man verlässt aber nicht einfach so seine Familie, seine Freunde. Ich wusste, ich musste mein altes Leben, 26 Jahre, hinter mir lassen und ein komplett   neues Leben anfangen. Wie es sein würde, wusste ich nicht. Ich hatte ja noch nie die Erfahrung gemacht in einem freien Land zu leben.

Ich hatte immer den Artikel aus der Menschenrechtsdeklaration in den Ohren: „Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Somit hat jeder Mensch die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, sowie die Freiheit, diese alleine oder in einer Gemeinschaft auszuüben.“

 Dann war dieser Vorfall mit einem Patienten im Labor. Nach einer Urinprobe empfahl ich ihm, so viel wie möglich zu trinken, und das tat ich mitten im Ramadan. Dem Patienten, aber besonders seinem Begleiter, blieb es nicht verborgen, dass ich die medizinische Notwendigkeit über religiöse Normen stellte. Unmittelbar danach wurde ich im April 2015 unter dubiosen Vorwänden entführt, konnte mich aber freikaufen.

Zur gleichen Zeit wurde meine Beziehung zu meiner Verlobten problematisch. Den Schwiegereltern wurde klar, dass ich mich vom Islam abgewandt hatte, sie fühlten sich gekränkt.  Den ganzen Groll über die unehrenhafte Beziehung bekam die Tochter zu spüren: Sie musste ihre Arbeit im Krankenhaus aufgeben, und natürlich durfte sie mich nicht mehr treffen.

 Mir wurde klar, ich musste so schnell wie möglich weg. Bereits zu viele Leute wussten über meine Abkehr vom Islam Bescheid. Ich bin dann über die Türkei auf dem Landweg bis nach Deutschland gekommen. In Karlsruhe habe ich mich den Behörden gestellt. Zuerst kam ich in eine LEA  (Landeserstaufnahmeeinrichtung). Da war ich plötzlich auf engstem Raum wieder mit den Leuten zusammen, vor denen ich geflüchtet war. Ich glaube, den Behörden ist das nicht bewusst, was für eine Retraumatisierung das für Atheisten ist, auf so engem Raum wieder mit streng gläubigen Muslimen zu sein. Wieder stand ich unter der Beobachtung und Kontrolle durch Fundamentalisten. Ich sah aber sofort eine Chance für mich. Da ich Labor-Medizin studiert hatte und fließend Englisch sprach, habe ich mich freiwillig gemeldet, um bei der Krankenstation zu helfen. Ich konnte dolmetschen von Arabisch ins Englische, der größte Teil vom medizinischen Personal hat Englisch gesprochen. Somit war ich weg von meinen Gegnern. Ich konnte ein paar Wörter Deutsch aufschnappen, auf andere Gedanken kommen, ich hatte eine Tätigkeit, ich war nützlich. Mir wurde klar, dass ich die Landessprache so schnell wie möglich lernen musste. Nach einem Monat wurde ich in eine Sammelunterkunft verlegt, in der ca. 500 Personen lebten. Wir, die Männer, teilten uns ein Zimmer zu viert, später hatte ich ein Zwei-Bett-Zimmer. In der Sammelunterkunft blieb ich 2 Jahre. Es hat oft Konflikte gegeben, aber ich konzentrierte mich auf das Erlernen der deutschen Sprache. Manche Flüchtlinge lachten mich aus, weil ich mich so bemühte. Ich hatte einen großen Vorteil, da ich im Irak Englisch gelernt hatte und dadurch das lateinische Alphabet schon kannte. Für die Flüchtlinge, die nur eine arabische Sprache sprechen, ist es schwer, sie müssen eine ganz andere Schrift erlernen. Um Kontakt zu Deutschen zu bekommen, habe ich oft in der Kleiderkammer geholfen. Die ehrenamtlichen deutschen Helfer haben immer wieder mein Deutsch korrigiert. Darüber hinaus habe ich bei vielen Flüchtlings-Programmen der Stadt und des Landes mitgemacht. Ich war sehr motiviert. Sechs Monate nach meiner Anhörung und 2 Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland wurde ich abgelehnt. Das war ein Schock für mich. Ich habe sofort Einspruch erhoben und habe mich an eine Anwältin gewandt. Ab jetzt hieß es abwarten, und das ist zermürbend, man fühlt sich ausgeliefert.

Zu der Zeit fand ich aber eine Arbeit in einem Labor. Das brachte mich auf andere Gedanken und ich fühlte mich nützlich. Man fragte nach meiner Meinung. Was für mich besonders wichtig war, war die Tatsache, dass ich auf eigenen Beinen stand. Ich war Deutschland dankbar für die Unterstützung und dafür, mir die Möglichkeit gegeben zu haben, Deutsch zu lernen. Nun konnte ich das auf eine gewisse Art zurückgeben. Zur gleichen Zeit bekam ich auch einen Platz in einer 2er WG bei der Stiftung Geißstraße  dank dem Einsatz von Frau Veronika Kienzle, die ich bei verschiedenen Veranstaltungen der Stadt kennengelernt hatte. Das war für mich von der Sammelunterkunft in eine 2er WG wie ein 6er im Lotto! Es war  ein Sprungbrett in mehr Selbstständigkeit.

 Bei einer Veranstaltung der Stadt, wo auch Flüchtlinge zu einer Debatte eingeladen wurden, habe ich Marie-José S. kennengelernt. Sie kannte aus früheren Reisen den Mittleren Osten, und wir kamen ins Gespräch. Als sie meine Geschichte erfuhr, hat sie mir sofort ihre Hilfe angeboten. Sie war schon in der Flüchtlingshilfe aktiv. Ich hatte Kontakt zu Atheist Refugee Relief (der englische Name der Säkularen Flüchtlingshilfe e.V.) in Köln aufgenommen. Nach mehreren Telefonaten und Mails mit Stefan Paintner, bin ich mit Marie-José  nach Köln gereist. Dort haben wir Stefan, Dittmar und Rana, eine Aktivistin aus Saudi-Arabien, getroffen. Sie haben 2017 den Verein in Köln ins Leben gerufen. Stefan hat uns geraten, eine Säkulare Flüchtlingshilfe in Stuttgart zu gründen und gab uns die Empfehlung, uns an die gbs (Giordano Bruno Stiftung) zu wenden. Auf der Rückreise hatten wir Zeit, darüber zu diskutieren. Das ganze schien uns ein Mammut-Projekt! Aber ein paar Wochen später hatte Marie-José Kontakt zu Werner K. von der gbs. Auch er betreute eine säkulare Flüchtlingsfamilie. Langsam nahm das Projekt Form an und wir trafen uns mehrmals. Monika S. von der gbs Stuttgart und Hosein aus dem Irak kamen auch dazu. Im Juli 2019 hat sich dann unser Verein gegründet. Wir sind unter dem Dach der Säkularen Flüchtlingshilfe e.V. Deutschland. Wir treffen uns regelmäßig und haben schon verschiedene Demos organisiert. Ich hätte nie gedacht, dass wir so etwas schaffen, aber dank der deutschen Helfer haben wir beste Unterstützung, um auch das Administrative zu erledigen. Wir hatten eine Lesung von Rana Ahmad über ihr Buch: “Frauen dürfen hier nicht träumen“ geplant, aber wegen Corona auf das Frühjahr 2021 verschoben. Auch unser monatliches Treffen ist oft nicht möglich, aber wir halten Kontakt über Internet, WhatsApp und Video-Treffen.

Das Warten auf mein Verfahren war sehr zermürbend, ich war in der Warteschleife. Ich konnte nichts machen. Es ist sehr belastend, nur noch ferngesteuert zu sein. Manchmal hatte ich überhaupt keine Hoffnung mehr. Aber unsere Treffen in der Gruppe haben mich immer wieder motiviert.

 Im September wurde ich vor Gericht geladen. Ich hatte in den 2 Jahren an verschieden Aktionen teilgenommen, hatte Artikel geschrieben. hatte ein Interview beim SWR gegeben, hatte Kontakte geknüpft zu verschieden Aktivisten und Aktivistinnen. Ich werde es nie vergessen, wie ich zur Verhandlung ging und wusste, dass sich in den nächsten Stunden mein ganzes künftiges Leben entscheiden würde. Neben der Anwältin hatte ich das gesamte ehrenamtliche Team der Säkularen Flüchtlingshilfe Stuttgart im Saal. Psychologisch hat mir das unheimlich geholfen.

Dann begann das Warten. Ich hatte noch Glück, denn schon nach 2 Wochen kam die Nachricht von der Anwältin, dass das Verwaltungsgericht mir die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hatte. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um es wirklich in mir aufzunehmen. Ich war angekommen.

Mir ist bewusst, dass es immer wieder Momente geben wird, wo man sich vor lauter Freiheit etwas verloren fühlt oder einsam. Aber wir haben unseren Verein, der vielleicht auch eine Art von Familienersatz ist. Die meisten von uns kommen aus einer Kultur, wo die Familie eine große Rolle spielt. Wie ich schon früher erwähnt habe, haben wir  bei der Flucht alles hinter uns gelassen. Im  Verein treffen wir andere Flüchtlinge, die ein ähnliches Schicksal haben wie wir selbst und die Ehrenamtlichen. Ihnen können wir uns anvertrauen, wir können um Rat fragen. Man kann alles googeln, aber eine persönliche Antwort oder Empfehlung ist was anderes! Ich habe es eben wieder erlebt. Ich habe jetzt eine eigene Wohnung, und bei der Übergabe hieß es, ich sollte innerhalb 48 Stunden den Strom anmelden. So etwas kannte ich nicht. In meinen bisherigen Unterkünften hatte ich mit so etwas nichts zu tun. Man traut sich dann nicht, zu fragen. Es war eine große Hilfe, dass ich mich an unser Team wenden konnte.

Ich bleibe selbstverständlich in dem Verein der Säkularen Flüchtlingshilfe e.V., um auch andere zu unterstützen. Es ist für uns der Ort, wo wir immer andocken können. Wir haben viele Pläne, um unseren Verein bekannter zu machen. Wir sind wohl durch Corona etwas ausgebremst, aber es geht weiter. Es sind auch neue Flüchtlinge dazu gekommen, und auch Nicole gehört seit kurzem zu dem Betreuer-Team. Nach all diesen Jahren der Unsicherheit möchte ich jetzt mal einfach EIN GANZ NORMALES  LEBEN führen.