Am 8. Oktober 2020 hat im Bundestag die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Gyde Jensen, und die FDP-Fraktion die Anfrage „Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Apostaten und religionsfreien Menschen“ an die Bundesregierung gestellt. Darin kommen die Erfahrungen atheistischer Flüchtlinge und die kürzlich aufgestellten politischen Forderungen der Säkularen Flüchtlingshilfe zur Sprache. Die Veröffentlichung der Antwort der Bundesregierung wird für Anfang November erwartet. Rana Ahmad, Mahmudul Haque Munshi und Stefan Paintner nehmen eine erste Bewertung vor und stellen fest: Noch nie seit 1949 wurde im Bundestag eine derart umfassende Positionierung der Bundesregierung zur Situation von Apostaten und religionsfreien Menschen eingefordert.
„Ich bin begeistert. Welch ein großartiger Vorstoß im Bundestag! Für eine Ex-Muslimin wie mich enthält er alle wichtigen Punkte, die mich seit Jahren bewegen. Diese Initiative der FDP zu Apostaten und religionsfreien Menschen ist wegweisend“, sagt Rana Ahmad, Mitgründerin und Vorstandsfrau der Säkularen Flüchtlingshilfe. Und weiter: „Im Herbst 2015 bin ich nach Deutschland geflohen und als ich es geschafft hatte, war ich schockiert. Denn in der Kölner Aufnahmeeinrichtung wurde ich von Islamisten mit dem Tod und anderem bedroht. Weil andere Flüchtlinge mitbekommen hatten, dass ich nicht mehr an Allah glaubte und mich als Atheistin nicht mehr den Vorgaben aus Koran und Scharia unterwarf. Ich konnte es nicht fassen: das passierte mir nicht in Saudi-Arabien, von wo ich geflohen war, sondern im freiheitlichen Deutschland, wohin ich geflohen war! Zum Glück fand ich in dieser schwierigen Zeit bei dem Zentralrat der Ex-Muslime und der gbs Köln private Hilfe und konnte eine eigene, sichere Unterkunft finden. Aber kaum jemand hat sich damals für mich oder andere Atheisten interessiert. Im Gegenteil: Weil ich nicht schwieg, und sogar Interviews über meine Erfahrungen gab und ein Buch darüber veröffentlichte, wurde ich gar als muslimfeindlich, rechtspopulistisch und Schlimmeres attackiert. Denn wie ich nach und nach lernen musste, störte ich – wie so viele andere geflüchtete Ex-Muslime – den offiziellen Schulterschluss wichtiger deutscher Politiker und Ministerien mit den Islamverbänden wie DITIB und dem sogenannten Zentralrat der Muslime. Aus dieser schockierenden Erfahrung habe ich 2017 die Säkulare Flüchtlingshilfe mitgegründet. Es gibt für uns viel zu tun. Viele andere geflüchtete Frauen und Männer müssen diese Bedrohungen auch heute in Aufnahmeeinrichtungen, in ihrer eigenen Familie oder an ihrem Wohnort durchmachen. Ich habe täglich mit ihrer Not zu tun. Wir helfen mit unserem Verein bei vielen persönlichen Schicksalen, wo immer wir können, aber es wird sich im Großen nichts ändern, wenn nicht die Politik entschieden handelt. Deshalb haben wir in diesem Jahr zehn Forderungen an die Politik aufgestellt. Es erfüllt mich daher mit großer Zuversicht, dass Gyde Jensen als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses und die Abgeordneten der FDP jetzt im Bundestag Rückgrat zeigen, unsere Themen ansprechen, in aller Deutlichkeit auch Fragen zu unserer Bedrohung durch Islamisten stellen und diese auch benennen.“ Frage 9: „Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Bedrohung und Verfolgung von Apostaten und religionsfreien Schutzsuchenden in Deutschland zu a) Aktivitäten durch die Regierungen ausgewählter Herkunftsländer von Schutzsuchenden, insbesondere zu Iran, Pakistan, Saudi-Arabien und Türkei; b) Aktivitäten von Milizen, Familien- und Clanmitgliedern, insbesondere aus dem in a) genannten Länderkreis sowie insbesondere zu schiitischen Milizionären der Al-Salam-313‘.“
„Apostasie ist ein Menschenrecht und kein Tabu und auch kein Verbrechen“
An der FDP-Initiative gefällt Rana Ahmad die direkte, deutliche und sachliche Art der Fragen an die Bundesregierung: „Ich will keine Rhetorik eines Kulturkampfes. Ich will ohne religiöse Bevormundung einfach ein normales Leben führen. Apostasie ist ein Menschenrecht und kein Tabu und auch kein Verbrechen.“
Mahmudul Haque Munshi, ebenfalls im Vorstand der Säkularen Flüchtlingshilfe, freut sich, dass die Abgeordneten als Begründung für ihre Initiative auf den DW-Beitrag „Atheismus ist lebensgefährlich“ hinweisen. Munshi war im Herbst 2015 nach Deutschland geflohen, nachdem er als religionsfreier und islamkritischer Blogger in Bangladesch bedroht wurde und Mordanschläge überlebt hatte. In dem von den Abgeordneten zitierten DW-Beitrag sagt er: „Neulich habe ich auf meiner Facebook-Seite an einem einzigen Tag 4500 Todesdrohungen bekommen.“ Sein Name steht auf einer „Global Hit List“, auf der die Namen von geflüchteten Bengalen im Ausland verzeichnet sind, die umgebracht werden sollen. Er lebt an einem unbekannten Ort in Deutschland. Er interessiert sich besonders für die Antworten der Bundesregierung auf die Frage 7: „Welche Ansätze verfolgt die Bundesregierung bei der Prävention und Nachbearbeitung von Ursachen, die zu Menschenrechtsverletzungen und ggf. zur Flucht aus Staaten führen, in denen Blasphemie oder Apostasie mit dem Tode bestraft werden kann?“ und wie sie sich konkret in einem Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wie Bangladesch für den Schutz von Apostaten und religionsfreien Menschen einsetzt.
„Meilenstein unserer Arbeit“
Stefan Paintner, Vorstand, nennt es „einen Meilenstein unserer Arbeit, dass die Erfahrungen der Betroffenen und die kürzlich aufgestellten Forderungen des Vereins derartige Resonanz gefunden haben und nun sogar Thema im Bundestag sind.“ Wenn man die Online-Datenbank der Drucksachen und Plenarprotokolle des Bundestages ab 1949 durchsucht, wird klar: die Initiative der FDP ist wirklich wegweisend. Denn noch nie seit 1949 wurde im Bundestag derart umfassend eine Positionierung der Bundesregierung zur Situation von Apostaten und religionsfreien Menschen eingefordert.
Paintner mahnt aber auch: „Warten wir ab, was die Bundesregierung antwortet. Denn der letzte Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit behandelte Apostasie eher randständig und vermied in enttäuschender Weise Zahlen und konkrete Angaben. Dabei handelt es sich gerade in islamisch geprägten Ländern um eines der am stärksten missachteten Menschenrechte und gleichzeitig um einen der dynamischsten gesellschaftlichen Faktoren. Fest steht für uns: die Lage der Betroffenen wird nicht nur von der Opposition, sondern zunehmend auch in den Parteien der Bundesregierung wahrgenommen.“ Aus Union und SPD äußerten sich bislang zu den Anliegen der Säkularen Flüchtlingshilfe unter anderem die NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU), die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Bärbel Kofler (SPD) und die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe Doris Schröder-Köpf (SPD).
„Jeder(r) hat das Recht, frei von Religion zu leben“
Die Säkulare Flüchtlingshilfe will die Ergebnisse aus der Antwort der Bundesregierung, deren Veröffentlichung für Anfang November erwartet wird, breit und überparteilich aufgreifen. Paintner weist auf die Kampagne „Jeder(r) hat das Recht, frei von Religion zu leben“ mit Gesichtern von betroffenen Flüchtlingen hin, die gerade angelaufen ist. Letztlich geht es darum, den Regierungsparteien einen neuen Zugang zur Islamdebatte und der Asyl- und Migrationsdebatte zu eröffnen, den sie durch den offiziellen Schulterschluss mit den Islamverbänden offenbar nicht erhalten. „Wir wollen die individuelle Vielfalt der nichtreligiösen und liberalreligiösen Menschen mit Migrationshintergrund aus islamisch geprägten Ländern aufzeigen“, so Paintner. In dieser durchaus heiklen Debatte wappnet sich der Verein gegen unlautere Anwürfe mit den Leitplanken „Gegen Islamismus und gegen Fremdenfeindlichkeit“ aus dem bewährten Motto der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) von der Kritischen Islamkonferenz.
Paintner sieht dafür den Verein gut aufgestellt: im Jahr 2020 konnten trotz der Corona-Einschränkungen weitere Spenden und ehrenamtliche Unterstützung gewonnen werden. Eine international aufgestellte Strategieberatung berät den Vorstand pro bono bei den politischen Forderungen und dem Ausbau der Aktivitäten. Zudem gehören Prominente wie der investigative Journalist Günter Wallraff, Hamed Abdel-Samad (Autor: „Aus Liebe zu Deutschland: Ein Warnruf“, „Der islamische Faschismus“ und mit Mouhanad Khorchide „Ist der Islam noch zu retten?: Eine Streitschrift in 95 Thesen“) und die ehemalige islampolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion Lale Akgün (Autorin von „Platz da! Hier kommen die aufgeklärten Muslime. Schluss mit der Vorherrschaft des konservativen Islams in Deutschland“) zu den bekannten Unterstützern des Vereins.
Die Bundestag-Drucksache 19/23227 „Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Apostaten und religionsfreien Menschen“ ist hier abrufbar.